Der kuriose Fall der nationalistischen Musik

Der Nationalismus in der Musik ist eine merkwürdige Sache. Allgemein gesagt beschreibt er Bemühungen in der Musik des späteren 19. Jahrhunderts, dem deutschen Einfluß auszuweichen und folkloristische Elemente der eigenen Nationalmusiken in die Kunstmusik einzuführen. Die Schwierigkeiten, die dieser Begriff mit sich führt, sind zweifach: Auf der einen Seite ist es sehr schwer festzuhalten, was genau gemeint ist – besonders wenn man die geläufigen, schwammigen Definitionen mit ihren Anwendungen vergleicht. Auf der anderen Seite war und ist dieser Begriff schon immer, und besonders heutzutage, mit negativen Konnotationen belastet. Die vielen Widersprüche, die in diesem Begriff und seinem Gebrauch liegen, sind daher einer Klärung bedürftig.

Die Einteilung der späteren romantischen Musik in nationalistische und nicht-nationalistische Musik ist eine der kuriosesten Leistungen der Musikforschung. Verschiedene Quellen verurteilen verschiedene Komponisten in diese Kategorie, wobei das Schwergewicht der Nationalisten in Osteuropa und Skandinavien liegen soll. Am häufigsten werden in diesem Zusammenhang Komponisten wie Smetana, Grieg oder Mussorgski erwähnt. Deutschland/Österreich hat natürlich keine zu bieten, wie auch Frankreich und Italien nicht, Spanien ist wiederum fast gänzlich dabei. Neuere Quellen, die an dem Begriff festhalten versuchen ihn auszuweiten und schließen England, Amerika und viele anderen Länder ein, so daß eine farbige und völlig unverständlich-inkonsistente Landkarte unweigerlich zu einer bunten Verwirrung führen muß.

Warum gibt es keine deutsche oder französische nationalistischen Komponisten? Wie kann Arnold Schönberg seine 12 Töne als „Sicherung der deutschen Vorherrschaft in der Musik“ feiern ohne als Nationalist zu gelten? Die Frage muß wohl derjenigen ähnlich sein, die den Unterschied zwischen Terrorist und Freiheitskämpfer sucht: es hängt wohl sehr vom Standpunkt ab. Man stelle sich vor, im 19. Jahrhundert zu leben, vielleicht so um die Mitte. Man blickt zurück – immer eine beruhigende Tätigkeit – und sieht eine Zeit von großen, etablierten König- oder Kaiserreichen, in denen entsprechend Musik geschaffen wurde. Plötzlich wird diese Ruhe gestört, neue Länder entstehen oder zeigen die Absicht zu entstehen, und in diesen gibt es auch Musik, oft gar nicht so schlechte. Es muß eine verwirrende und auch destabilisierende Zeit gewesen sein, besonders, wenn man im Kernland eines dieser etablierten Reiche lebte. Was könnte leichter sein, als die Freiheitskämpfer als Nationalisten abzutun, und ihre Musik als nationalistisch? Natürlich werden die Komponisten dieser neuen Länder sich gelegentlich den Ereignissen ihres Landes widmen, oder Anregungen in ihren Volksliedern suchen – das haben Komponisten seit jeher getan. Manche werden ganz offen ihre Kompositionen der politischen Macht widmen, so wie es Mozart mit seinem „Clemenza di Tito“ tat. Musiker stehen meist im Dienste der politischen Macht und werden sich dieser anpassen, oder auch nicht, je nach Geschmack.

Das beste Beispiel der Absurdität des Begriffes „musikalischer Nationalismus“ ist die Musik Tschechiens. Als Teil des Habsburger Reiches waren die Komponisten Böhmens leitend an der Entwicklung der Wiener Klassik beteiligt. Die führenden Komponisten der Frühklassik waren aus Böhmen, und propagierten ihre neue Musik nicht nur in Österreich sondern im weiteren europäischen Raum, von Mannheim bis nach Paris und London. Stilistisch gesehen war eine der Grundlagen der Klassik der volksnahe Ton, als Kontrast zu der sogefühlten „Überlastung“ der barocken Musik; dabei spielten demnach Volkslieder und ihre Übernahme in die Kunstmusik eine große Rolle. Diese Volkslieder waren natürlich gebietsspezifisch – böhmische Volkslieder klingen durchaus anders als französische oder italienische – und somit trugen die Eigenheiten der mitteleuropäischen Tonfärbung maßgeblich zum Stil der Wiener Klassik bei.

Wenn nun hundert Jahre später Komponisten des gleichen Gebietes weiterhin die Melodien ihres Landes in ihre Kompositionen einbinden, weiterhin die Schönheit ihrer Heimat preisen, sollen sie nun plötzlich Nationalisten sein – nur weil sich die politische Landschaft geändert hat, und sie nun nicht mehr böhmische Komponisten sein sollen, sondern tschechische. In beiden Fällen haben sie dasselbe gemacht, dieselben Prinzipien in ihre Musik übertragen; nur ihr Ausgangspunkt ist nicht mehr derselbe.

Traditionell wird an dieser Stelle eingewendet, die Musik der Nationalisten sei viel offener in ihrer politischen Natur, viel programmatischer als es zu Zeiten der Wiener Klassik üblich war. Man muß dazu allerdings anerkennen, daß die Musik sich im allgemeinen völlig verändert hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts, und daß die Musik der sogenannten Nationalisten sich in dieser Offenheit überhaupt nicht von jeder anderen Musik unterschied. Wenn man im Bereich der Geschichtsschreibung und Politik vom Nationalismus in dieser Zeit spricht, so erkennt man ihn überall, in Deutschland ebenso wie in Frankreich und Rußland als eine allgemeine Tendenz – ein neues Paradigma, sozusagen, eine neue Art, sich in der Welt zu orientieren. Wenn ein Komponist hervorhebt, wie wichtig ihm die Musik seines Landes oder seines Volkes ist, muß man dieses als Symptom seiner Zeit sehen, gleich in welchem Land es stattfindet. Man würde schwerlich einen Komponisten des 19. Jahrhunderts finden, der sich nicht gelegentlich in nationalistischen Begriffen geäußert hat und Musik zu nationalistischen Anlässen geschrieben hat – wo liegt da der Unterschied zwischen der „Moldau“ Smetanas und der „Rheinischen“ Symphonie Schumanns? Die slawischen Libretti zu Dvoraks Opern sind nicht nationalistischer als die germanischen Libretti bei Wagner, und die erste große Sammlung nationaler Volkslieder war „Des Knaben Wunderhorn“, in Deutschland, nicht anderswo. Der Unterschied liegt vielleicht darin, daß vom Standpunkt eines patriotischen Deutschen im 19. Jahrhundert aus betrachtet fremder Patriotismus etwas bedrohliches ist, Wagner dagegen etwas beruhigendes. Im Übrigen hatten sich Mozart und Beethoven nicht weniger stolz über deutsche Musik geäußert als viele späteren Komponisten.

Ein weiterer Einwand, der an dieser Stelle oft erhoben wird, ist, daß es einen übernationalen Stil gegeben habe, eine pan-europäische Musiksprache, von dem sich die Nationalisten abgewandt haben, um ihre eigenen, nationalen Stile hervorzuheben. Dieser übernationale Stil ist vermutlich mit dem Stil der Wiener Klassik identisch: durch ein Zufall der Geschichte gab es tatsächlich im ausgehenden 18. Jahrhundert verhältnismäßig geringe Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen Ländern. In dieser Zeit scheint es eine Flauheit in der europäischen Musik gegeben zu haben, die Dominanz Wiens war fast vollkommen. Diese Anomalie könnte dem Begriff des musikalischen Nationalismus den Anlaß geboten haben: eine so einseitige Zeit hat es vermutlich in keinen anderen Kunstformen zu keiner anderen Zeit gegeben. Allerdings mutet es etwas bizarr an, diese Stileinheit noch im späten 19. Jahrhundert antreffen zu wollen – schon 1828 war Schubert im gleichen Rahmen zu hören wir Berlioz und Chopin, und 50 Jahre später war wohl Dvorak dem Stil und Geiste nach Mozart näher als die meisten deutschen Komponisten. Der Bruch zwischen der Neudeutschen Schule um Wagner und Liszt und den Traditionalisten um Brahms sollte jede Vorstellung von Stileinheit vergessen machen. Eine solche Einheit hatte es vor der Wiener Klassik ohnehin auch nie gegeben, wie man erkennen kann, wenn man versucht einheitliche Züge zwischen den barocken Werken der norddeutschen Komponisten und den spanischen und italienischen Komponisten der gleichen Zeit zu finden.

Als ein der Politik entlehnter Begriff scheitert der „musikalische Nationalismus“ auch daran, daß der Musik, die ihrem Wesen nach sich genauer Deutung entzieht, auch keine eindeutigen Ziele zugeordnet werden können. Was soll einem Komponisten wichtiger sein: seine nationalistische Botschaft oder die Schönheit und Geformtheit seiner Musik? Welche Botschaft soll der Zuhörer dieser Musik entnehmen? Hier stellen sich ähnliche Fragen wie bei der Beurteilung programmatischer Musik: welcher Inhalt der Komponist auch immer beschreiben will, am Ende muß das Werk hauptsächlich gute Musik sein, die Parallelen zwischen außermusikalischem Geschehen und dem musikalischen Hörerlebnis sind meist rein oberflächlich. Es ist zwar nett, in dem Verlauf von Smetanas „Moldau“ den Verlauf des Flusses zu erkennen, doch bleibt dies nur ein Bruchteil der Begegnung mit dem Werk. Ebenso kann man sich bei einem angeblich nationalistischen Werk fragen, welcher Anteil unseres Hörerlebnisses von diesem quasi-politischen Aspekt bestimmt ist. Schumann sprach zwar von den „in Blumen versenkten Kanonen“ in der Musik Chopins, doch hören wir in dessen Mazurken wohl mehr die komplexen Rhythmen und harmonische Labyrinthen, die diese Musik so auszeichnen, als irgendeine politische Aussage – es sei denn, wir betrachten schon die Tatsache, daß Chopin polnische Tänze komponierte, als politisch. Dies ist zwar durchaus denkbar, doch müßten wir dann auch Haydn und Mozart als Nationalisten abstempeln wegen ihren zahlreichen deutschen Tänzen.

Es ist nicht überraschend, daß es den Begriff des musikalischen Nationalismus gegeben hat, besonders in Deutschland. Es ist auch nicht weiter überraschend, daß dieser Begriff auch in anderen Ländern anzufinden war. Überraschend ist es allerdings doch, daß er noch immer kursiert, obwohl ihm jede logische Legitimation und jede nützliche Anwendung fehlt. Im Bereich der Geschichtsschreibung oder Politologie mögen diese Kategorien aufschlußreich sein, doch in der Musikologie nicht. Denn was lernen wir über ein Musikstück, wenn wir sagen, es oder sein Komponist seien nationalistisch? Hilft es uns zu verstehen, warum es schön oder unschön ist? Verstehen wir dadurch die Form des Stückes besser, können wir es mehr schätzen? Oder lernen wir damit Komponisten herabzusetzen ohne ihre Musik beurteilen zu müssen? Der amerikanische Musikologe Richard Taruskin hat in seinem Artikel über Nationalismus im Grove Dictionary sehr schön beschrieben, in welcher Zwickmühle sich ein ost- oder nordeuropäische Komponist im 19. Jahrhundert fand: er konnte entweder versuchen, sich stilistisch an den deutschen Komponisten zu halten – wobei er entscheiden mußte, welche Richtung ihm besser gefiel – oder sich von Deutschland abzuwenden und eine eigene Richtung einzuschlagen. Im letzteren Fall wurde er als Nationalist abgestempelt, im ersteren als schwache Imitation ohne eigene Wurzeln.

In einem Gespräch mit der amerikanischen Zeitschrift „Etude“ äußerte sich Sergei Rachmaninov 1919 über die großen russischen Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und sprach darüber, welche Komponisten russischer waren als andere, wer mehr „aus dem Volke geschöpft“ habe als andere usw. Solche Aussagen werden oft als Hinweise verwendet, daß viele Komponisten nationalistisch komponierten, und daß es daher einen Nationalismus in der Musik gäbe, in diesem Fall einen russischen Nationalismus. Natürlich gab es einen russischen Nationalismus unter russischen Komponisten, sowie es in jedem Land einen Nationalismus gibt, an dem auch Komponisten teilhaben. Ob wir ihre Musik danach beurteilen, wie nationalistisch sie als Komponisten waren, ist eine andere Frage. Der Nationalismus des Komponisten ist eine biographische oder politische Kategorie, aber keinesfalls eine musikalische. Die Musik jedes Landes hat immer tief aus den Melodien seines Volkes geschöpft, in Deutschland nicht weniger als anderswo. Man muß auch anmerken, daß Rachmaninov diese Kriterien nicht als Zeichen von Qualität verwendete, sondern nur als Charakteristika verschiedener Komponisten, mit denen er befreundet und musikalisch verwandt war. Man sollte ebenfalls anmerken, daß in der Musikgeschichte der letzten vier Jahrhunderte wohl kein Land so oft die eigene Vorherrschaft in der Musik so bejubelt hat wie Deutschland, ein Land in dem es angeblich keinen musikalischen Nationalismus gibt!

Es ist an der Zeit, sich von diesem Begriff zu verabschieden und Musik rein klanglich zu erleben und erforschen. Wir sollten Mussorgski und seinen nationalistischen Kollegen dankbar sein, daß sie unsere Musik erfrischt und ausgeweitet haben und eine Abwechselung zu Wagner und Mahler bieten; wenn uns Musik nicht gefällt, reicht es dieses an der Musik selber zu fühlen: wir brauchen weitere außermusikalische Kriterien nicht. Der Standpunkt, von dem aus wir die Entwicklung der klassischen Musik betrachten sollten, ist der der Musik selber, mit allen ihren Kostümen und Masken, die sie zu tragen pflegt.


 


 

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