RADOLFZELL, 12.11.05

Stürmisch gefeierter Pianist Bela Hartmann mit den drei letzten Sonaten in der Villa Bosch

 

Der überzeitliche Franz Schubert

 

VON

GERHARD HELLWIG

 

 

Es muss kein „Steinway” sein, um der ganzen Palette des Klanglichen zu entsprechen. Ein gut gestimmter “Blüthner” (Leipzig) besitzt die verwandten Vorausetzungen, sofern er mit dem 1876 patentierten Aliquotsystem ausgerüstet ist. Der in der Villa Bosch zur Verfügung stehende Stutzflügel ist ein solcher. Das bedeutet, dass außer den angeschlagenen Saiten jeweils eine zusätzliche Saite in der Oberoktav zum Mitschwingen gebracht wird. Bela Hartmann machte im Rahmen des „Musikalischen Herbstes”, anläßlich des Todestages von Schubert (19. November) seine drei letzten Klaviersonaten zum Ereignis. Dicht an dicht saßen die Zuhörer, bedachten den 34jährigen, in Stuttgart geborenen Pianisten mit frenetischem Beifall. Das war der Lohn für einen Schubert, den Bela Hartmann in überzeitlicher Bedeutsamkeit nachempfand. Schubert nicht als Träumer, sondern als Bezwinger seines persönlichen, mit Enttäuschungen und Krankheit behafteten Lebens. Hartmann hat sich aus seinem angeborenen Talent heraus diesem Komponisten mit Intelligenz genähert. Hauptmerkmal seiner Interpretationen ist die Stille, die bisweilen zum Himmel schreit. Heftig waren die Anfangstakte des Allegro zur Sonate c-Moll, Deutschverzeichnis 958, wie weggewischt, um den gleitenden Tonartwechseln (Modulationen) sprechenden Raum zu geben. Im folgenden Aufbruch wollte man in Hartmanns trotzig aufbäumenden Läufen und Oktavgängen Beethoven ausmachen. Aus dem schlicht beginnenden As-Dur Adagio keimte die geheimnisvolle Akkordfolge. Das so ungewöhnlich von Schubert gefasste Menuett hatte tragischen Zuschnitt, und für das Schluß-Allegro brachte Bela Hartmann das Nachdenkliche melodiebetont als Balsam für die Seele ein. Was in der Sonate A-Dur, D 959, mit dem Allegro so kraftvoll optimistisch beginnt, das ließ Hartmann, vorlagengetreu, im Andantino in dunkle Tiefen abstürzen – kein Laut der Zuhörer drang in diese Stille, gleich einem Kompliment für den Pianisten, der mit diesem Satz in Bann zog. Als souveräner Techniker erwies sich Hartmann in den springenden Rhythmen und perlenden Läufen des Scherzo, das nach Pausenabbrüchen immer wieder Schuberts Einfälle heraussprudeln läßt. Im Schluss-Rondo stellte sich die Balance zwischen einschmeichelnder Melodie und dämonischer Bedrohung ein – ganz Schubert, wie er leibt und lebte im Wechsel von Niedergeschlagenheit und kurzer Befreiung. Bela Hartmann krönte seinen Einsatz für Schuberts schaurig-flackernden Lebensgang mit der B-Dur Sonate, D 960. Im Todesjahr 1828 komponiert, ist dieses Werk ein Dokument musikgeschichtlicher Zerrissenheit. Bela Hartmann offenbarte mit dieser Wiedergabe den „Einspruch gegen den Fluss der Musik und damit der Zeit selbst”, wie Dieter Schnebel es formuliert hat. Dennoch: Das Wechselhafte, das Unterbrechen von Phrasen, das Bildhafte von gefrorenen Tränen, die wieder zum Auftauen gebracht werden (Schlusstake des Andante sostenuto), das Seltsam-Scherzende (Allegro vivace con delicatezza) hatte unter den Händen von Bela Hartmann bindende Kontinuität, und keine „marktgängige Sentimentalität” (Herbert Marcuse) verletzte den überzeitlichen Franz Schubert.


 

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